PROF. JENS BECKER
Prof. Jens Becker studierte von 1986 bis 1991 Regie an der HFF KONRAD WOLF in Potsdam-Babelsberg. Seitdem schrieb und inszenierte er über 70 Spiel- und Dokumentarfilme, sowie Serienfolgen. Er arbeitet außerdem als Dramaturg. Seit 2004 unterrichtet er als Professor für Drehbuch an der heutigen Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Jens Becker lebt seit 2021 in Loitz in Mecklenburg-Vorpommern, wo er mit seiner Frau Antje Borchert ein altes Fachwerkhaus saniert und der regionalen Filmszene neue Impulse gibt.
Du beschäftigst Dich schon seit 2014 mit dem Enneagramm als Drehbuch-Tool. Wie hat sich Dein Blick auf die Arbeit mit diesem Typenmodell im Laufe der Jahre verändert?
Genau genommen habe ich das Enneagramm schon um das Jahr 2000 herum für mich entdeckt, durch den Buchtipp einer Freundin. Es hat dann über zehn Jahre gedauert, bis ich das antike Typenmodell in eine moderne Form adaptieren konnte, die für das Schreiben von Charakteren geeignet war.
In dieser Zeit habe ich auch recherchiert, wie sich die Aussagen des Enneagramms mit Erkenntnissen aus der Soziologie und der Psychologie decken. Mir war nämlich wichtig, dass sich die Richtigkeit des Modells tatsächlich empirisch nachweisen lässt.
DAS DREHBUCH-TOOL ist auf die Praxis ausgerichtet – Wie können Autor:innen und andere Stoffentwickler:innen am besten damit arbeiten?
Ganz wichtig ist, die erste Exposé-Fassung immer erst aus dem Bauch heraus zu schreiben. Das Enneagramm kann und darf die Fantasie nicht ersetzen, sonst werden die Charaktere nicht lebendig wirken. Das Tool kann helfen, Fragen zu beantworten oder neue aufwerfen. Aber wenn es zu mechanisch eingesetzt wird, dann wird das Ergebnis entsprechend sein. Und auch dann empfehle ich, die Erkenntnisse des Enneagramms nur als Vorschläge anzusehen. Sinnvolle Vorschläge allerdings.
Welche Trends erkennst Du aktuell im Erzählen für Film, TV und Streaming? Was vermisst Du dabei?
Durch die rasante technische Entwicklung bei Streaming, Gaming und beim CGI erleben wir gerade einen zweiten Frühling des filmischen Erzählens.
Wenn ich in der deutschen Filmbranche etwas vermisse, dann ist es der Mut der Geldgeber zu Radikalität. Wohlgemerkt – es fehlt nicht am Mut der Kreativen. Noch immer entsteht in Deutschland fast nichts ohne Beteiligung von TV-Redaktionen und meist mehreren Filmförderungen, was immer mit Kompromissen und Nivellierungen einhergeht. Das muss sich ändern. Und ich wünsche den Produktionsfirmen, dass mehr Geld bei ihnen hängen bleibt, damit sie selbst mehr Kapital in Stoffentwicklungen stecken können. Ich finde, da entwickelt sich zwar etwas in die richtige Richtung, aber im Schneckentempo, gemessen an der internationalen Entwicklung.
Du arbeitest seit vielen Jahren auch als Dozent. Was macht in Deinen Augen ein gutes Seminar aus?
Die Studierenden müssen das Vertrauen in die Gruppe haben, dass sie allen ihre halbfertigen Texte zeigen können und dabei verstanden und ermutigt werden. Dass das geht, dafür bin ich als Dozent verantwortlich.
Und dann will ich den Studierenden wirklich etwas mitgeben. Sie brauchen in meinem Seminar kein Geschwafel, sondern eine klare Methodik, dramaturgischen Wissenszuwachs, Ermutigung und Schreibpraxis. Schreiben, analysieren, überarbeiten, wieder analysieren, wieder überarbeiten. Bis es gut ist.
Mir ist wichtig, dass die Studierenden selbst herausfinden, wohin ihre künstlerische Entwicklung gehen sollte. Ich kann sie dabei unterstützen und ihnen spiegeln, was sie einzigartig macht, was sie von den anderen unterscheidet.
Hast Du einen ultimativen Tipp für Newcomer zum Einstieg in die Branche?
Der beste Einstieg ist immer noch der Weg über eine Filmhochschule. Eine gute Alternative für Quereinsteiger ist eine hochwertige Weiterbildung, wie sie an der MSD geboten wird. Und dann ist Netzwerken ganz wichtig. Film ist einfach eine Kollektivkunst. Das geht auch gut auf kleinen Festivals, wie Sehsüchte oder FiSH oder dem Filmfest Dresden.
Und du musst es wirklich wollen, wenn du dich als Kreativer ein ganzes Berufsleben lang behaupten willst.
Was wünschst Du Dir selbst für Deine berufliche Zukunft?
Ich habe noch ein paar Wunschstoffe, die ich umsetzen will und an denen ich jetzt gerade arbeite. Als Autor und als Regisseur.
Am Ende bin ich dankbar für jeden einzelnen Stoff, den ich realisieren durfte und darf, denn ich bin an jeder dieser Arbeiten gewachsen.
DR. SYLVIA NAGEL
Dr. Sylvia Nagel arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik und Philosophie als Produzentin, Regisseurin, Redakteurin und Drehbuchautorin im Dokubereich, Derzeit ist sie Producerin bei Vincent Productions. Mit ihrer eigenen Firma Medienkontor Winterberg & Nagel hat sie preisgekrönte Filme wie MADE IN AUSCHWITZ. THE UNTOLD STORY OF BLOCK 10 und KINDERHANDEL. MITTEN IN EUROPA entwickelt und umgesetzt. Vielfach hat sie sich an der MSD weitergebildet, so insbesondere in unseren Online-Seminaren bei Rüdiger Hillmer.
Du kennst die Perspektive der Autorin, aber auch die der Produzentin und Redakteurin. Hast Du einen Tipp, wie all diese Parteien ideal zusammenarbeiten können?
Im besten Fall finden alle Parteien bereits am Anfang eines Projekts zusammen, z.B. mit einem Stoff, der bereits anrecherchiert ist. Manchmal reicht auch eine Idee, um dann in einem gemeinsamen Brainstorming die Geschichte und die Erzählform zu finden. Redakteurinnen sind ebenfalls gerne frühzeitig eingebunden, da sie das Projekt im Sender durchbringen müssen. Dort gibt es harte Competitions um Stoffe und Sendeplätze.
Du bist eine erfahrene und preisgekrönte Dokumentarfilmerin. Inwiefern bringen Dich die Seminare an der MSD weiter?
Ich habe an der MSD schon unendlich viel gelernt – das alles gilt für Dokumentarisches, Fiktion und bei hybriden Formaten gleichermaßen. Ich schaue heute anders auf Stoffe, die mir angeboten werden und entwickele eigene Ideen und Stoffe auch ganz anders seit meinen Seminaren. Ich sehe seitdem auch noch viel mehr Fiktionales, vor allem Serien, was mir für meine Arbeit als Producerin und natürlich als Drehbuchautorin sehr nützlich ist.
Wie wichtig sind Dir bei Deinen Projekten in welcher Phase dramaturgische Überlegungen?
Im Dokubereich ist die Dramaturgie genauso wichtig wie im Fiktionalen. Wenn möglich binde ich eine Dramaturgin sehr früh ein. Ich habe z.B. als Produzentin mit einem ausländischen Produzenten gearbeitet. Es war sein erster Langfilm. Mit einer erfahrenen Dramaturgin, die ich gewinnen konnte, haben wir auf Basis der Vorlage des Produzenten das Treatment entwickelt – und sind auch gefördert worden.
Wie hat sich das dokumentarische Erzählen in den letzten Jahren verändert?
Heute sind klassisch gebaute Dokumentationen wie noch vor etwa fünf oder zehn Jahren nicht mehr state of the art. Der besondere Zugang zur Geschichte, zu den Protagonistinnen u.ä. – da werden heute viel höhere Anforderungen gestellt. Das hat sicher auch mit den High-End-Produkten der Streamer zu tun, an denen sich auch die Öffentlich-Rechtlichen sehr orientieren. Das empfinde ich nicht als Nachteil. Im Gegenteil, als Weiterentwicklung. Viele dokumentarische Stoffe werden heute als Serie für die Mediatheken erzählt. Das gelingt oft, oft aber auch nicht. Nicht jeder Stoff ist als Serie geeignet. Wenn es aber so ist, wird horizontal, mit Cliffhangern und Figuren, die durch die Serie führen und mit denen sich die Zuschauerinnen viel besser als in älteren Dokumentarfilmen und Dokumentationen identifizieren können, erzählt. Das sind, meines Erachtens, alles positive Einflüsse.
Hast Du einen ultimativen Tipp für Doku-Newcomer zum Einstieg in die Branche?
Einen ultimativen Tipp gibt nicht. Ein Praktikum ist immer ein guter Einstieg in die Branche, um zu schauen, ob es einem gefällt bzw. welcher Bereich und um Kontakte zu knüpfen. Dann: eine Ausbildung als Journalistin, ob bei Radio, TV oder Print, also ein Volontariat, oder die Ausbildung an einer Filmhochschule, um das Handwerk zu lernen. Wenn man für die Öffentlich-Rechtlichen arbeiten möchte, geht daran kein Weg vorbei.
Woran arbeitest Du gerade? Und was wünschst Du Dir für Deinen nächsten Film?
Ich arbeite zusammen mit zwei Kolleginnen als Producerin an einem inhaltlich und vom Archiv her anspruchsvollen großen Dokumentarfilm fürs Kino, an einer TV-Dokumentation mit fiktionalen Szenen über eine spannende Frau des 19./20. Jahrhunderts, ein role model für ihre Zeit und darüber hinaus, und einem fiktionalen Stoff – und hoffe natürlich, dass die Filme gelingen. Außerdem schreibe ich an einer Mini-Serie basierend auf historischen Begebenheiten, deren Entwicklung in der MSD in der Corona-Pandemie begonnen hat. Das macht mir große Freude und ich wünsche mir sehr, dass ich diese Serie realisieren kann.